Irgendwas, das bleibt
Nachwort zur Abschiedsfeier für verstorbene Wohnungslose im Jahr 2016
Wenn die Seelen weinen (VerfasserIn unbekannt)
„Die einen trinken/die Tränen-die sie weinen möchten/als Bier, Schnaps oder Wein/in sich hinein./Bei anderen sind sie längst versiegt./Doch es bleiben die/die nach innen weinen./Und irgendwann ertrinken.“
Nicht alle unserer sechzehn verstorbenen Gäste, denen wir heute gedenken, haben getrunken. Sicherlich aber haben sie geweint - nach innen, sowie nach außen. Ich erinnere mich genau an die vielen stillen und doch so lauten Tränen von Igors nach dem Tod seines Freundes Edvinas. „Plocho mne, Liska.“- „Mir geht es schlecht.“ Ein gestandener Mann, obgleich seine Gestalt der des Goliaths glich, zu Fall gebracht, vom Leben, vom Alltag auf der Straße, vom Verlust seines Weggefährten und damit dem eigenen Verlorengehen. Immer öfter fanden wir ihn taumelnd, gefallen und liegen geblieben. Seine Haut, der Spiegel unzähliger Stürze und Ausdruck seines unsäglichen Schmerzes. Das letzte Mal wurde er gesehen, da schlugen die RTW-Türen hinter ihm zu. Nur wenige Monate nach dem Tod seines Freundes, flackert nun auch eine Kerze für Igors in der Notübernachtung.
Denke ich jetzt darüber nach, überraschte mich die Nachricht über sein Versterben im Winter tatsächlich nicht so sehr, als dass die traurige Gewissheit an mir nagte, dass auch diesmal kein Wunder eingetreten war. Es stirbt sich leise auf der Straße. Ich bin mir sicher, dass im letzten Jahr weit mehr wohnungslose Menschen das Leben ließen, als irgendjemandem bekannt ist. Gäste, die plötzlich nicht mehr erschienen sind. Obdachlose, die nicht mehr an ihren langjährigen Stammplätzen aufzufinden sind. Körper, zu schwach zum Gehen; Lungen, zu kraftlos für einen weiteren Atemzug. Nieren, die versagen und Lebern, deren Kapazität bereits restlos ausgeschöpft ist. Es lässt mich nur noch traurig den Kopf schütteln, dass es zum Alltag unserer Arbeit geworden ist Menschen dabei zu begleiten und ohnmächtig zusehen zu müssen, wie sie stetig abbauen. Wie über mehrere Monate, Jahre und Kältehilfesaisons hinweg aus Hoffnung Resignation wird, gescheitert an Aufenthaltstiteln, Arbeitserlaubnissen, Behördengängen, dem Wohnungsmarkt, Zwangsräumungen, körperlichen, sowie psychischen Erkrankungen. Verbraucht durch unbezahlte Arbeit, Absagen und Ablehnung. Sie ertrinken auf offener Straße.
Oft sind wir Mitarbeitende der Einrichtungen, die sie zuletzt besuchten, die einzigen, die am Grab stehen, die sich verabschieden und ein Gedenken bereiten – wie heute. Das macht mich traurig und dennoch bin ich froh, dass es in diesem Fall wieder „wenigstens“ wir sind. Eine bunte Truppe aus Medizinern, jeglichen Mitarbeitenden der Kältehilfe, Kältebusfahrern, Bekannten und anderen Gästen. Alle haben wir an diesem Abend gemeinsam, dass sich an irgendeinem Punkt unsere Lebenswege, sowie die der Verstorbenen gekreuzt haben. Was bleibt sind Begegnungen und Erfahrungen, die wir nun Revue passieren lassen, mit den anderen Anwesenden teilen, um die Menschen auf diese Weise in unseren Worten, Köpfen und Herzen weiterleben zu lassen. Erlebnisse, die uns womöglich selbst geprägt haben und uns lernen ließen. Sei es die Gutmütigkeit Jimmys, andere Hilfesuchende und Notleidende in seiner kleinen Bude aufzunehmen. Oder der innige Wunsch Elizas, dass andere Menschen durch ihre Fehler lernen mögen und ihren Blick nicht verschließen sollen, vor der Not ihrer Mitmenschen und Umwelt.
Edvinas, Igors, Caro, Eliza, Volker, Evgenijs, Marcin, Boris, Sandra, Are, Leonids, Ziedonis, Bianca, Gino, Gintas, Jimmy und jene, die noch leiser gingen.
Gitarrenakkorde und die zarte Stimme einer Mitarbeiterin begleiten das flackernde und tanzende Licht ihrer Kerzen: „Und gib mir einfach nur’n bisschen Halt, und wieg mich einfach nur in Sicherheit. Hol mich aus dieser schnellen Zeit. Nimm mir ein bisschen Geschwindigkeit. Gib mir was, irgendwas das bleibt.“*
Ich glaube, genau das ist es, was uns zum weitermachen bewegt und an was wir festhalten müssen. Wir können selten einen anderen Menschen wirklich „retten“. Geschweige denn 200 pro Nacht. Das wird uns in solch‘ Momenten schmerzhafter denn je vor Augen geführt. Aber wir können Menschen einen Fixpunkt über die Monate bieten. Wir können ein Ort sein, an dem sie die Anonymität der Straße gegen einen Namen eintauschen, an dem sie bekannt und angenommen sind. Ein Ort, an dem sie womöglich Halt, sowie Hilfe finden können, um sich zu orientieren, an dem sie durchatmen und für einen Augenblick einfach ankommen dürfen. Etwas, das beständig ist und über die Saison bleibt – sowie im nächsten Jahr wieder zur Stelle ist.
Was uns an diesem Abend bleibt, sind Erinnerungen an wertvolle Menschen.
Auf dass ihr nun in Frieden ruht.
Lissy Kraft
*Silbermond- Irgendwas bleibt