Wieder verloren
Wie gefällt dir folgende Vorstellung: Die Temperatur ist im Laufe des Tages auf null Grad, wenn nicht niedriger, gesunken. Eisige Nebelschwaden lassen die Plattenbauten unserer Stadt im Dunst verschwinden. Leichter Nieselregen – oder sind es bereits Schneeflocken – verwandeln den Asphalt mancherorts in glatte Pisten und machen es vor allem den Rollstuhlfahrern und an Krücken Wandernden noch schwerer in die Lehrter 68 zu gelangen.
Während wir all diese kalten Ungemütlichkeiten vor unserer Haustür abwimmeln können, machen sich weit mehr als hundert Menschen über den Tag verteilt bis in die Nacht hinein auf den Weg, um einen warmen Platz in unserer Notübernachtung für Wohnungslose zu erhalten. Manche verbringen mehrere Stunden vor unseren Türen, manch einer harrt bereits den ganzen Tag in der Kälte aus, nur um am Abend pünktlich um 21 Uhr zu den Ersten zu gehören, welche eintreten dürfen. Niemand kann behaupten, dass die Hoffnung und die Gedanken an eine warme Suppe oder ein warmes Bett einen Menschen in dieser Kälte zu erwärmen vermögen. Nein, es ist die reine Not und das Wissen beziehungsweise Hoffen, dass diese Türen womöglich die letzten freien Plätze dieser Art bereitstellen. Plätze, von denen sie nicht verscheucht werden wie es an Bahnhöfen, in Schnellimbissen oder anderen öffentlichen Örtlichkeiten gang und gäbe ist - selbst bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Als Gründe lassen sich viele „Erklärungen“ finden: zu laut, zu betrunken, zu aggressiv, zu geruchsintensiv, zu krank, zu obdachlos? Wohnungslose Menschen stören zu oft im Erscheinungsbild der Lokalität, stören diejenigen Menschen, die es sich leisten können sich dort aufzuhalten. Das Gewissen wird begraben mit Rindersteak und ein, zwei Gläsern Wein, während es in Berlin an hunderten von Schlafplätzen für Menschen fehlt, welche ihren verloren haben.
„Ich habe mich heute wieder verloren.“
Derselbe Mensch, der gleiche Satz, ein Jahr später. Mit zusammengesunkenen Schultern steht er vor mir, konzentriert darauf seine Worte zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen.
„Ich habe wieder getrunken, meine Dame. Vier Flaschen Wodka. Ich bin gar nicht stolz. Gar nicht.“
Mein Kollege versucht ihn zu beschwichtigen:
„Dafür sind Sie jetzt hier. Soll ich Ihnen etwas verraten? Wir haben Sie gefunden.“
Als ich über seine Antwort nachdenke, muss ich traurig schmunzeln. Es erscheint mir wahrlich so, als würden wir B. seit nun einem Jahr Woche für Woche, Nacht für Nacht erneut einsammeln, ihn finden und versuchen etwas aufzurichten, nur um zuzusehen, wie er sich wieder verliert . Ist er bei uns, so hat er konkrete Pläne: die Sucht bezwingen, zurück in die Heimat, die ihm so am Herzen liegt, zurück nach Bayern. Dazu beginnen seine sonst vom Alkohol getrübten Augen zu leuchten, indessen er sich in kindlichem Glucksen zurückerinnert. Gerne lausche ich seinen Erzählungen einmal, zweimal, dreimal. Während ich mir sehnlichst für ihn wünsche, dass er es vielleicht beim zehnten, wenn nicht beim zwanzigsten Mal letztlich schafft, statt eines Kassenbons für Schnaps eine Fahrkarte in der Hand zu halten. Doch bisher siegt die Scham, seiner Familie so vor Augen zu treten. Als Gefallener zurückzukehren. Und so versucht B. weiterhin sie mit Hochprozentigem zu ertränken, die Scham kleinzuhalten, während er sie dadurch nur stetig nährt.
Was ist es, das einen Menschen antreibt weiterzumachen, der scheinbar so vieles und so viele im Leben verloren hat? Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich über diese Frage sinniere. Ist es die Hoffnung auf Veränderung? Ist es das Akzeptieren der eigenen Lebensumstände? Ist es ab einem gewissen Punkt gar Routine?
M. hat über die letzten Jahre stetig und stark abgebaut. Für seine Größe ist er unheimlich zerbrechlich, stelle ich erneut fest, als ich seinen Rollstuhl in das Pflegezimmer unserer Ambulanz schiebe. Während Berlin gerne ein Auge schließt, was die Not wohnungsloser Menschen angeht, so ist unsere Stadt scheinbar blind, wenn das Thema auf Wohnungslose mit Behinderung zu sprechen kommt. Als eine der wenigen Einrichtungen mit Plätzen für Rollstuhlfahrer versuchen wir jede Nacht drei bis vier Menschen aufzunehmen. Was kläglich wenig scheint, verdeutlicht die Traurigkeit und Hilflosigkeit angesichts dessen, dass diese Zahl im Vergleich zu anderen Notübernachtungen enorm hoch ist. Sage mir, kommt es dir jetzt nicht auch absurd vor, dass ein Bahnhof einen solchen Menschen vor die Tür setzt, da er „stinkt“, wo es doch praktisch keine Möglichkeiten und Ressourcen in dieser Stadt gibt genau diesen Menschen wenigstens zu duschen, seine menschlichen Grundbedürfnisse, wie einen Schlafplatz, zu sichern? Während meine Gedanken wieder auf Hochtouren arbeiten und ich versuche meine Wut und Ohnmacht über solch‘ Ungerechtigkeiten direkt vor meinen Augen zu unterdrücken, nehme ich zwei weitere Rollstuhlfahrer auf, bereite die Betten vor, bringe ihnen Essen und Trinken und hieve den Dritten im Bunde in sein Feldbett. Für diese Nacht konnten wir ihnen einen warmen Platz bereiten, einen Ort, an dem sie zur Ruhe kommen und den Rollstuhl verlassen können. Wohin es sie morgen verschlägt, ob sie wieder auf hilfsbereite Passanten treffen, die sich mit ihnen auf den Weg hierher begeben und ob dann überhaupt noch einer der vier Plätze frei sein wird, dass liegt nicht weiter in unserer Hand. Wollen wir es hoffen.
Anonymität der Großstadt
Da diese Nacht besonders kalt und frostig ist, öffnen wir heute bereits früher unsere Türen zur zweiten Hälfte. Immer wieder treten auch bekannte Gesichter der letzten Kältehilfesaison über die Schwelle, Hände werden geschüttelt, Namen ins Gedächtnis gerufen, die Anonymität der Großstadt eingetauscht gegen Vertrautheit. Man kennt sich, mehr noch, man sieht sich. Kleine Gesten im Kontrast zur sonst so selbstverständlichen Ignoranz und Verdrängung des Offensichtlichen auf unseren Straßen. Es ist mittlerweile nach 0:00 Uhr und langsam nimmt der Trubel um die Lehrter 68 ab. Die Schlafhäuser sind bereits beide belegt. Nun beginnt das Suchen nach einem freien Platz im Aufenthaltsraum. Da ich eine Stunde länger Schicht habe, wünsche ich meinen Mitarbeitern einen erholsamen Feierabend und sehe, wie sie der Nacht entschwinden, allesamt mit der Perspektive vor Augen, bald ihre Wohnung oder ihr warmes Zimmer aufschließen zu können.
Kurze Zeit später klopft es an der Tür. Verwundert erkenne ich eine der Mitarbeiterinnen des Abends. „Ich habe etwas vergessen.“ Da ich das nur zu gut kenne, muss ich doch an die nicht seltenen Male denken, als ich samt Namensschild oder Walkie Talkie den Heimweg bestritten hatte, nicke ich und widme mich erneut dem Chaos im Gepäckraum. Als ich aufschaue, steht sie vor mir.
„Das klingt jetzt vielleicht blöd, aber könntest du mich bitte einmal in den Arm nehmen?“
Tränen laufen ihr über die Wangen und ohne zu fragen, schließe ich meine Arme um sie. Schniefend erzählt sie mir von dem Auslöser. Die Hilflosigkeit hätte sie schier überrannt, als ein weiblicher Gast ihr vor Feierabend sämtliche Probleme, die man sich nur vorzustellen vermag, schilderte. Und bei keinem dieser Probleme hatte sie auch nur ansatzweise das Gefühl etwas verändern zu können, der Frau greifbar und praktisch zu helfen. Ich kann ihre Traurigkeit nachvollziehen.
Hilflos, aber nicht allein
Was ich in drei Jahren Kältehilfe gelernt habe und mir in solch‘ Momenten, von denen wohl auch kein langjähriger Mitarbeiter verschont bleibt, stets vor Augen führe, sind die kleinen Dinge mit großer Wirkung, die selbst für uns persönlich oft ungesehen und unbemerkt bleiben. Dass wir uns Zeit nehmen, unserem Gegenüber wirklich zuhören und ihm die Möglichkeit geben seinen Sorgen und seinem Kummer freien Lauf zu lassen, sich auszukotzen. Gerade zu unseren Stoßzeiten kann genau das bisweilen verloren gehen. Die Zeit auf einen einzelnen Menschen wirklich einzugehen, ihn nicht „abzuarbeiten“ mit dem Druck der weiteren Fünfzig, die bereits vor der Tür warten. Dass sie der Frau ihre Zeit und ihr Gehör geschenkt hat, wirklich aufrichtig und interessiert zugehört hat, das kann einem Menschen bereits enorm Last von der Seele nehmen – auch wenn dies nur für einen Moment andauern mag. Als ihre Tränen versiegen, weiß ich, dass ich womöglich ihr in diesem Moment ein wenig Last abnehmen konnte. Wir verabschieden uns und auch sie tritt ihren Heimweg an.
Jede Schicht bleibt eben eine Überraschung, gespickt mit Momenten der Freude, der Trauer, der Wut, der Hilflosigkeit, aber auch Hilfsbereitschaft. Nirgendwo ist man der Realität wohl so nah, als an Orten wie diesem. Wir müssen akzeptieren, dass wir unsere Gäste nicht „erretten“ können. Aber was wir können, ist uns mit ihnen auf den Weg machen, sie ein Stück weit begleiten, sehen, wo Unterstützung gebraucht wird und dann im besten Fall da sein.
Damit sage ich ein weiteres Mal: Tschüss liebe Nü und bis zur nächsten Schicht!
Lissy (Mitarbeiterin Notübernachtung Lehrter Straße)